Cardiomatics: Cloud-basierte künstliche Intelligenz für Kardiologen

KI-Lösungen erleichtern die Routinearbeit von Kardiologen. Das Startup Cardiomatics aus Polen analysiert mit wissenschaftlich basierten Algorithmen Daten aus Holter-EKGs und liefert Ärzten Analysen für ihren Befund, etwa im Kontext des Vorhofflimmerns. Mediziner wie Patienten profitieren vom eingesparten Zeitaufwand.

Gegründet wurde Cardiomatics Anfang 2017 – von zwei Ingenieuren, die einander vom Studium her kannten: Rafał Samborski, PhD (als CEO verantwortlich für die Aufgabenbereiche Business und Strategie) und Mariusz Mąsior (als CTO zuständig für Produkte und Architekturen). „Die Idee zu Cardiomatics kam durch Beratungsprojekte für ein medizinisches Jungunternehmen zustande“, erinnert sich Dr. Samborski. „Als Ingenieure erkannten wir die enorme Lücke zwischen den technischen Möglichkeiten und den für Kardiologen tatsächlich verfügbaren Tools“.

Das Startup hat den Mangel an Effektivität und die Fehlerrisiken im Fokus, die aus dem nach wie vor hohen manuellen Anteil der ärztlichen Tätigkeit resultieren. „Wir konkretisieren diesen Ansatz auf Basis der Anfragen unserer Auftraggeber; derzeit liegt der Schwerpunkt auf Vorhofflimmern (atrial fibrillation, AF). Im Vergleich mit Gesunden weisen Menschen mit AF ein fünffach erhöhtes Risiko auf, einen Herzinfarkt zu erleiden“, erklärt der CEO. „Daher konzentrieren wir uns derzeit auf die Entwicklung eines Moduls für die Erkennung von Vorhofflimmern.“

So funktioniert die Technologie

Der Arzt lädt die Patientendaten von Holter-EKG-Geräten herunter – mit einer leicht zu bedienenden Desktop- oder Web-Applikation. „Die Daten werden zu unserer sicheren Cloud übermittelt. Dann geschieht unsere Zauberei“, schmunzelt der Ingenieur. Zuerst kommt das eigenentwickelte Modul für das Qualitätsmanagement zum Einsatz, das sehr gut qualitative Daten von unnützem „Rauschen“ unterscheidet. Im nächsten Schritt klassifizieren – auf neuronalen Netzen basierende – Algorithmen die einzelnen Segmente im EKG als unauffälligen Sinusrhythmus bzw. als pathologisches Phänomen. Sodann generiert das System automatisch einen Report, der sich ausdrucken oder elektronisch austauschen lässt. „Das Schöne an dieser Lösung ist ihre Einfachheit”, so Dr. Samborski.

Die Daten für das Trainieren der Algorithmen stammen aus zwei Quellen:

  • Aus dem Betrieb von Cardiomatics. Zum Stand von August 2019 hält das Startup Daten zu fast 100.000 Multichannel-EKGs vor (das entspricht 400 Millionen Herzschlägen) in seiner Datenbank, und ein hoher Anteil hiervon wird für das “Lernen“ der Modelle verwendet.
  • Weitere Daten – insbesondere zu selteneren Phänomenen – beschafft das Startup von kooperierenden Kliniken und bezahlt dafür – zum Beispiel vom Warschauer Universitätsklinikum.

Der Endnutzer installiert keine zusätzliche Software, um die Lösung einzusetzen. Die einzige Voraussetzung ist ein Holter-Recorder, der mit Cardiomatics kompatibel ist – die entsprechende Liste wird jeden Monat länger, sagt der CEO – sowie Internetzugang.

Was unterscheidet Cardiomatics von anderen Anbietern?

In zwei Hinsichten ist diese Lösung neu und anders:

  • Sie ist Cloud-basiert – vor Ort muss man keinen Software-Client installieren, und Cardiomatics ist von jedem beliebigen Ort weltweit von Desktops und Mobilgeräten zugreifbar.
  • Der Austausch und die Nutzung der Resultate ist deutlich einfacher als bei älterer Software.
  • Die Lösung ist Hardware-unabhängig – Daten von unterschiedlichen marktgängigen Geräten sind auslesbar / und Ärzte können mit unterschiedichen Geräten durchgeführte Untersuchungen vergleichen

Der Nutzen

Ärzte verbringen zwischen 30 Minuten und eine Stunde für die Analyse einer typischen 24-Stunden-Holteraufzeichnung. Kleinere Kardiologiekliniken führen monatlich rund 100 solcher Analysen durch. Mit Cardiomatics reduzieren sie diesen Aufwand auf wenige Klicks und das Lesen des Befundes. Ärzte sparen so mindestens 80 Prozent ihrer Zeit ein.

„Und Patienten“, freut sich der CEO, „profitieren durch das Mehr an Zeit, die sich der Arzt für das Gespräch mit ihnen nehmen kann, sowie durch die Verkürzung des Wartens auf die Ergebnisse. Manuell erstellte Befunde erfordern mitunter Wochen an Wartezeit”.

Das Geschäftsmodell

Das aktuelle Geschäftsmodell von Cardiomatics lautet “pay-per-use”: Ärzte bezahlen für den Einsatz der Lösung im jeweiligen Patientenfall. Dr. Samborski ergänzt: „Wenn sie die Vorteile für ihren Zeiteinsatz sehen, entscheiden sich für unser System.“

Gemeinsam mit Partnern will Cardiomatics künftig auch ein Abonnement-Modell mit einer „Flatrate“ für eine unbegrenzte Zahl an Analysen mit einer definierten Anzahl an Nutzern anbieten.

Die Lösung in der Anwendung

„Mehr als 100 Einrichtungen in Europa setzen heute täglich Cardiomatics ein – die meisten von ihnen in der DACH-Region“, erläutert der CEO. Das Spektrum reicht von kleinen Praxen mit zwei bis drei Kardiologen bis hin zu Klinikketten. Cardiomatics findet auch Akzeptanz bei akademischen Forschungseinrichtungen wie etwa bei der Universität Bern.

„Den Kardiologen gefällt das modern Erscheinungsbild der Lösungen“, gibt der Ingenieur das Feedback wider. „Die Oberfläche wirkt mehr wie eine ‚Dropbox‘ im Vergleich zu konventioneller medizinischer Software. Positiv finden die Ärzte auch das bequeme Hochladen der Daten – was nach kurzer Einführung auch leicht durch MTAs geleistet werden kann. Die Visualisierung in unserem gut lesbaren Ergebnisreport kommt bei ihnen ebenfalls gut an.“

Klinische Studien

Die erste klinische Studie mit Cardiomatics ist in diesem Jahre gestartet. Unter EInbezug von 500 Patienten wird sie vom Medizinischen Universitätsklinikum Warschau durchgeführt. Im Fokus liegt dabei die Qualität der Analysen; erste Ergebnisse werden Mitte 2020 veröffentlicht. Das Projekt ist bei der United States National Library of Medicine registriert (https://clinicaltrials.gov/ct2/show/NCT04061434?cntry=PL&draw=2).

Zusammenarbeit mit Cortrium

Der dänische Medizinprodukte-Hersteller Cortrium hat ein bequem nutzebares Holter-EKG entwickelt. “Cortrium hat sich entschieden, Cardiomatics als Standard-Tool für die Datenanalyse einzusetzen. Holter und Software als Kombi-Produkt erleichtert Ärzten die Anschaffung”, so Dr. Samborski. „Wir sehen hier große Potenziale zugleich für Kardiologen und Allgemeinärzte, für die eine Anschaffung von Holter und zusätzlicher Software eine Hürde darstellen kann.“

Anwendungsbeispiel: Interlaken/Schweiz

Der Ingenieur berichtet: „Dr. Ulrich Ingold, Chef des Spitals Interlaken, sprach uns 2017 an“. Das Startup hatte eine frühe Version der Lösung während des Jahreskongresses der European Society of Cardiology in Barcelona gezeigt. „Ihm gefiel, wie wir unseren neuen Ansatz mit der konventionellen Herangehensweise verglichen.“ Dr. Ingold war einer der ersten Kliniker, die Interesse an Cardiomatics zeigten – und sein Interesse blieb erhalten über mehrere Monate Wartezeit bis zur Fertigstellung der Produktzertifizierung Anfang 2018. Bis August 2019 wurden Daten zu 400 Patienten in seiner Klinik mit Cardiomatics analysiert.

Der Klinikchef ist so zufrieden mit der Lösung, dass er beim ESC-Kongress in München 2018 seine Erfahrungen mit Cardiomatics präsentierte. Als engagierter früher Anwender teilt Dr. Ingold auch heute seine Arbeitserfahrungen mit dem System und gibt dem Startup unterstützende Vorschläge für die weitere Optimierung des Produkts sowie zur Ausweitung der zu analysierenden Erkrankungen.

Welche Veränderungen bringen KI-Lösungen für die Routine der Mediziner? „Es mag paradox klingen“, urteilt Dr. Samborski, „aber unsere Einschätzung ist, dass Software wie Cardiomatics die Ärzte wieder weg vom Bildschirm und zurück zu ihrer ursprünglichen Aufgabe der ‚sprechenden Medizin‘ führt – also zum Gespräch mit dem Patienten“.

Quelle: Cardiomatics, Krakau/Polen