Wie entwickelt sich die Healthtech-Branche in Europa und Deutschland? Droht die Konkurrenz aus dem Ausland uns zu überholen, weil wir in der analogen Wüste versanden? 

Die klassische Telemedizin baut bisher hauptsächlich darauf, Nutzer von offline zu online umzuverteilen. Das reicht nicht, um in Zukunft auf dem europäischen Markt bestehen zu können, meint Dr. Manuel Nothelfer, Mitgründer von Wellster Healthtech. In unserem Interview berichtet er über seine Erfahrungen.

Apple, Google und Co. drängen in den Healthtech-Markt. Wie schätzt du die Chancen von US-Unternehmen in Europa ein? Sind diese eine ernst zu nehmende Konkurrenz?

US-Unternehmen muss man, gerade wenn man die globalen Märkte im Auge hat, immer ernst nehmen, allein wegen ihrer Kapital- und Innovationskraft. Allerdings ist der deutsche Markt sehr speziell. Uber hat beispielsweise anfangs nicht funktioniert, weil das amerikanische Modell nicht so einfach übertragbar war. Der Gesundheitsbereich ist mit seinen unterschiedlichen Teilbereichen wie Versicherungssystem, Medizinrecht und Pharma-Regulatorik ein sehr regionaler und diffiziler Markt. Allein deswegen bin ich optimistisch. US-Unternehmen scheuen die hohen Regularien vor Ort und suchen trotz vorhandenen Kapitals eher den Schulterschluss mit lokalen Playern. Das ist der Vorteil von uns hier: Die deutsche und europäische Regulatorik ist unser tägliches Business.

Was konntest du in den vergangenen Jahren auf dem europäischen Markt beobachten? Welche Entwicklung hat sich hier abgezeichnet?

Digital Health ist ein großes Thema für Venture-Capital-Investitionen, weil der Gesundheitsmarkt einer der großen Märkte oder Industrien in Europa ist, die noch nicht digitalisiert sind. Corona hat hier definitiv mehr digitale Angeboten erzeugt. Dieser ist zwar oft schon wieder auf Vorkrisenniveau, etwa bei Online-Apotheken. Auf Investment-Seite jedoch ist das Hoch stabil geblieben. Digitale Gesundheit ist wahrscheinlich eine der ‚Top 3 Fokus-Industrien‘ für Venture Capital Investments in den kommenden Jahren. Auch hat sich gezeigt, dass sich das Investment vor allem auf die Digitalisierung isolierter Marktteilnehmer:innen konzentriert hat. So wurde der Arztbesuch um die Videosprechstunde ergänzt, die Apotheke um die Online-Apotheke. Mit dem DVG kamen die DiGA als digitale Therapien auf – wieder eine isolierte Digitalisierung.

Was sind die Trends in Europa und was ist entscheidend für ein gutes Healthtech-Angebot?

Die klassischen Teilnehmer des Marktes zu ersetzen, funktioniert nicht. Eine Apotheke kann man nicht durch eine reine Online-Apotheke ersetzen. Es überzeugen eher dezentrale Ansätze wie medizinische Software: Angebote für niedergelassene Ärzt:innen, Praxen und Krankenhäuser, die den Alltag erleichtern, erhalten hohe Bewertungen. Beispiele dafür sind Doktor24 aus Schweden oder Doctolib aus Frankreich. Das sind B2B-Lösungen, um mittels Digitalisierung effizienter zu werden und Patient:innen besser bzw. schneller behandeln zu können. Für die Erkrankten ist es aber auch entscheidend, dass das Angebot auf sie und ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Daher erwarte ich, dass vollintegrierte Ökosysteme weiter Fahrt aufnehmen werden. Wichtig dabei: Wir digitalisieren nicht isoliert, sondern ganzheitlich – im Sinne der Patient:innen.

Mit Wellster setzt ihr auf eine Entwicklung von der reinen Telemedizin zur Consumer Centered Plattform. Was bedeutet das genau?

Die Erfahrung muss von den Nutzenden aus gedacht und verbessert werden, nicht nur die Infrastruktur. Erfolgsgeschichten aus anderen Bereichen sind Robinhood, N26, FlixBus oder Airbnb, weil sie die gesamte Erfahrung für die Anwender, aber auch für andere Marktteilnehmer optimiert haben. Wir wollen den gesamten Markt digitalisieren, vom Moment der Problemerkennung über den Arzt- und Apothekenbesuch bis hin zur Behandlung. Wir setzen auf eine Evolution des Gesundheitsmarktes statt einer Revolution. Das heißt, wir bauen ein Ökosystem, das alle Teilnehmenden am Gesundheitsmarkt partizipieren lässt. So können wir auch E-Rezept-Lösungen und eine digitale Gesundheitsakte aufbauen, Marktteilnehmer wie Vor-Ort Apotheken und niedergelassene Ärzt:innen einbinden und teilnehmen lassen, statt diese auszuschließen.

Wie schätzt du die politischen und medizinischen Bestrebungen zur Digitalisierung ein? Wie weit ist Deutschland da im Vergleich zu anderen Ländern?

Das beste Beispiel ist, dass seit über zehn Jahren versucht wird, ein E-Rezept zu realisieren. Gerade wurde die Umsetzung wieder aufgeschoben. Die Digitalisierung wird hier noch oft als Gefahr gesehen, gegen die man sich mit Händen und Füßen wehrt. So verpasst man die Gelegenheit, gemeinsam an den Risiken zu arbeiten, um die Chancen zu nutzen. Durch diese Abwehrhaltung hat Deutschland in diesem Bereich derzeit keine Innovationsrolle in der Welt und wird immer mehr zum digitalen Niemandsland. Bezeichnend ist die Situation im E-Commerce: Erster ist Amazon, zweiter Alibaba. Die Digitalisierung des Handels ist zumindest, was die weltweite Führungsrolle angeht, nicht in europäischer Hand. Obwohl Deutschland globale Leader im Medizinbereich hätte (Siemens, Fraunhofer Institute), reden wir darüber, ob Google. Apple und Co. in den deutschen Markt drängen – und nicht andersherum.

Was muss sich in den nächsten fünf Jahren in der Gesundheitsbranche ändern?

Die Digitalisierung darf nicht nur von den klassischen Playern vorangetrieben werden, also von Ärzte- und Apothekenkammer oder dem Verband der Krankenkassen. Es müssen etwa private Start-ups mit an den Tisch gelassen werden, sodass die Digitalisierung schneller vorangebracht wird. Nicht nur das klassische System muss ‚elektrifiziert‘ werden, sondern die Digitalisierung muss zum Vorteil aller Teilnehmenden – also Patient:innen, Ärzt:innen, Apotheken, Krankenversicherungen usw. – stattfinden. Dafür dürfen wir nicht nur vom Angebot aus denken; die Patient:innen müssen im Zentrum stehen. Deren einfacher Zugang und Nutzen steht an erster Stelle – erst dann folgen die anderen Player.

Quelle: Wellster Healthtech