Der Gesundheitsmarkt ist geprägt von Fehlanreizen – schließlich bezahlen Kunden eine recht pauschale Versicherung, ganz gleich der durchschnittlichen monatlichen Behandlungskosten. Ärzte werden nicht nach Erfolg, sondern ebenfalls pauschal vergütet. Um nur zwei Beispiele zu nennen. Entsprechend hoch ist das Potenzial, Behandlung und Vorsorge zu optimieren. Dieses Optimierungspotenzial sollte eigentlich die Herzen von Gründern höher schlagen lassen. Doch weit gefehlt. Gesundheitsstart-ups sammelten laut State of European Tech 2019 drei Milliarden US-Dollar ein – ein Drittel der über neun Milliarden, die laut State of European Tech in Fintechs geflossen ist. Und das, obwohl gerade Innovationen im Gesundheitswesen besonders kostspielig sind.

Was sind die Gründe dafür, dass sich Health-Start-ups so schwertun?

Während eCommerce den stationären Handel massiv in die Bredouille gebracht hat und die Generation Y zunehmend von ihren traditionellen Hausbanken in Richtung von mobilen-Banking-Anbietern abwandert, sucht man im Gesundheitsbereich vergeblich entsprechend disruptive Pendants. Fünf Gründe erschweren Neugründern und Startups das Entwickeln, Vermarkten und Skalieren digitaler Gesundheitslösungen.

Daten

Patientendaten sind ein äußerst schützenswertes Gut. Entsprechend schrauben strikte regulatorische Hürden die Sicherheitsstandards und Compliance-Anforderungen an alle Apps und digitale Services, die mit Patientendaten arbeiten, in die Höhe – und damit auch die Kosten, diese einzuhalten. DSGVO ist im Vergleich dazu ein Kinderspiel.  Für Machine-Learning-Algorithmen braucht es aber Datenberge, die Startups aufgrund der regulativen Hürden gar nicht erst aggregieren können. Ergo dauert es ewig, um derartige Lösungen zu skalieren. Kleine Randnotiz: Bei aller Liebe zum Datenschutz sollten wir übrigens eine Sache nicht vergessen: 2035 werden mehr als 50 Prozent unserer Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Wenn wir die Art und Weise, wie wir die Versorgung gewährleisten, nicht grundlegend ändern, werden wir einen untragbaren Finanzierungsbedarf erreichen und setzen das Leben von Millionen Menschen aufs Spiel. Grundsätzlich ist ein stärkeres Nutzen von Patientendaten daher unausweichlich – allerdings fraglich, ob Startups für solch sensible Vorgänge Compliance-Anforderungen erfüllen können.

Kapital

Bis zu 748 Millionen US-Dollar lässt sich Pfizer mal eben das Entwickeln eines Impfstoffes im Zusammenspiel mit Biontech kosten. Ausgang? Ungewiss, auch wenn die Wahrscheinlichkeit auf Erfolg zuletzt zugenommen hat. Nun mögen die Kosten für die Entwicklung digitaler Gesundheits-Apps oder digitaler Service niedriger sein als die Forschungs- und Laborkosten für neue Medikamente. Aber: Klinische Studien und das Erfüllen der erwähnten Compliance und Datenschutz-Vorgaben beim Umgang mit Patientendaten sind ein ebenso kostspieliges Unterfangen. Es bräuchte Finanzierungsquellen und Unterstützung gerade für die kostspieligen und schwierig umzusetzenden klinischen Studien und die Umsetzung regulatorischer Anforderungen. Hierfür wollen viele Investoren, insbesondere, wenn sie den Gesundheitsmarkt nicht gewohnt sind, kein Geld ausgeben. Verständlich, dass der Finanzsektor und der Handel aus Investorenbrille daher attraktiver sind.

Klinische Studien

Für Neugründer besonders herausfordernd: Es handelt sich nicht um irgendeinen x-beliebigen A-/B-Test für den Online-Schuhverkauf, sondern um Menschenleben. Apps haben das Potenzial, unsere Gesundheit ähnlich gut, vielleicht sogar stärker zu verbessern als das ein oder andere Medikament. Fitness-Apps triggern uns, uns zu bewegen; Ernährungs-Apps helfen uns, unsere Ernährung zu optimieren; Sensoren warnen uns, wenn unsere Werte im Körper nicht mehr stimmen. Behandlungen werden dadurch häufig vermieden oder setzen bereits zu einem sehr frühen Stadium ein. Kassen sparen Gelder, Ärzte werden entlastet und Menschen werden erst gar nicht zu Patienten. Beispielsweise können laut WHO 80 Prozent aller verfrühten Herzinfarkte verhindert werden, unter anderem durch eine gesündere Ernährung und mehr Bewegung. Das Potenzial digitaler Lösungen, dies zu fördern, liegt auf der Hand. Aber: Anbieter derselbigen müssen sich strikt an wissenschaftlichen Kriterien, nicht am Marketing orientieren – und das obwohl es schwieriger ist, Evidenz für digitale Lösungen zu generieren als für die Wirkung von Medikamenten. Ohne evidenzbasierte klinische Studien werden digitale Gesundheitslösungen aber nie die Akzeptanz als medizinisch relevante Therapieform erhalten. Mehr noch: Ärzte oder Patienten werden diese andernfalls eher nicht über Krankenkassen abrechnen können.

Partner

Über die letztliche Anwendung entscheiden in der Gesundheitsbranche de facto die wichtigen Stakeholder: Krankenkassen müssen Therapien erstatten und Mediziner*innen Therapien verschreiben. Und es reicht nicht einen diese Akteure zu überzeugen. Alle Stakeholder müssen involviert werden, so divergierend ihre Interessen auch sind. In Sachen digitale Tools kommt hinzu, dass es eine bis dato ungewohnte Therapieform ist. Akzeptanz bei den Stakeholdern zu erlangen, gelingt nur über Evidenz – die entsprechend aufwendig und teuer sind – und durch Überzeugungsarbeit. Nicht zu vergessen: Werbung für Medikamente ist schwierig, über Wirkungen dürfen nur Ärzte sprechen. Und Pharmareferenten kosten gutes Geld.

Expertise

Vielleicht das größte Manko von Neugründern, insbesondere wenn ihnen jahrelange Erfahrung fehlt. Klinische Studien, Patientendaten, Partner – um all dies zu managen, benötigt das Führungsteam immense Expertise. Werden klinische Studien falsch designed, sind die Ergebnisse hinfällig, verbunden mit massiven Fehlinvestitionen. Bei Verstößen gegen Datenschutz, im Vertrieb oder Marketing drohen saftige Sanktionen.

Was also tun? Im Alleingang werden Start-ups nicht den digitalen Wandel in der Gesundheitsbranche stemmen, so dringend er auch benötigt wird. Die Antwort liegt auf der Hand: Es ist an den Konzernen, die Kapital, Expertise und Netzwerke mitbringen, neue Digitalunternehmen zu initiieren, Lösungen zu entwickeln und zu skalieren. Dafür brauchen Konzerne zwar keine Start-ups, aber die besten Digitalunternehmer, die wissen, wie man digitale Plattformen weltweit erfolgreich aufbaut.

Autor: Dr. Sven Jungmann, promovierter Arzt und Entrepreneur bei FoundersLane