Mit der Vorstellung der vierten Generation der Apple Watch erregten die Kalifornier ein enormes Aufsehen. Neben einem größeren Display bei kleinerem Gehäuse zeigt das Unternehmen mit neuen Funktionen wie EKG-Sensor und Sturzerkennung seinen technologischen Fortschritt. Das dürfte die Zielgruppe für den Kauf des Wearables deutlich erweitern und basiert auf einer langfristigen Strategie.

Bereits 2014 hatte Apple mit der ersten Generation nicht einfach nur eine Smartwatch vorgestellt: Mit der Einführung des HealthKit, der den Austausch von Daten unter Apps sowie mit Forschern und Kliniken regelt, verdeutlichte das Unternehmen schon länger seine ambitionierte Vision für die Gesundheitswirtschaft. Und genau diese Vision wurde mit der aktuellen vierten Generation wesentlich deutlicher: Neben Features für körperlich aktive und gesundheitsbewusste Nutzer bietet die neue Apple Watch nun auch eine bessere Unterstützung für Patienten. Zudem möchte Apple mit der Früherkennung von Herzrhythmusstörungen zur Prävention von Krankheiten beitragen.

Im Vergleich der aktuellen Generation der Smartwatch zu ihren Vorgängern fällt auf, dass Apple nicht nur mit dem EKG-Sensor, sondern auch in anderen Bereichen deutliche Verbesserungen erzielte. Die offensichtlichste Veränderung ist das größere Display. Ähnlich wie bei den aktuellen Top-Smartphones weist es nur noch einen dünnen Rand auf und kann so – trotz weiterhin kompakter Maße – wesentlich mehr Bildinformationen darstellen. Eindrucksvoll zur Geltung kommt dieses Display mit einem neuen Zifferblattdesign, dass seinem Namen „Infograph“ alle Ehre macht: Für das große Display der aktuellen Watch entwickelt, bietet es Platz für bis zu acht „Complications“, also kleine Felder, in denen sich Datum, Temperatur und weitere Informationen anzeigen lassen. In den Ecken des Zifferblatts können dabei nicht nur einzelne Werte, sondern auch Zusatzinformationen – wie Minima und Maxima einer Datenreihe, beispielsweise die Höchst- und Tiefstwerte der letzten Pulsmessungen, – angezeigt werden.

Verbesserte Sensorik

Verbesserungen gibt es auch bei den Sensoren der „Series 4“: Die Leuchtdioden des optischen Herz-Sensors sind im Vergleich zu den Vorgängermodellen wesentlich kleiner. Näher zusammengerückt schaffen sie Platz für einen Metallring, der eine der beiden Elektroden des EKG-Sensors bildet. Ferner gelingt es Apple, die Qualität der Herzfrequenzmessung zu steigern. Sowohl bei Vergleichstests während des Laufens, Radfahrens oder beim für Geräte mit optischer Pulsmessung besonders tückischen Kraftsport, lieferte die „Series 4“ genauere Werte als das Vorgängermodell. Dabei zeigte der Vergleich zur Referenzmessung mit einem EKG-Brustgurt, dass Apples aktuelles Modell die Änderung der Herzfrequenz bei variabler körperlicher Belastung mit einer geringeren Latenz erkennt. Auch wenn es für Triathleten und andere Sportler zahlreiche Speziallösungen gibt, die der Apple Watch bei der Batterielaufzeit, Genauigkeit der Pulsmessung oder in anderen Bereichen überlegen sind, gelingt Apple ein attraktives Gesamtangebot. Daher verwundert es auch nicht, dass Apple den weltweiten Wearables Markt vor Firmen wie Xiaomi, Fitbit und Garmin anführt. Wie aber sieht es mit den Funktionen aus, mit denen Apple nun auch Patienten von dem Produkt überzeugen möchte?

Zulassung durch die amerikanische FDA

Seit einem Software-Update vom 6. Dezember 2018 ermöglicht die Watch der vierten Generation in den USA die Aufzeichnung eines einkanaligen Elektrokardiogramms (EKG), einer Messung der elektrischen Vorgänge des Herzmuskels. Dabei erfolgt per App eine automatische Klassifizierung der Signale in Sinusrhythmus oder Vorhofflimmern. Letzteres ist die am häufigsten auftretende Störung des normalen Herzrhythmus. Die Messung des EKGs wird nicht kontinuierlich durchgeführt, sondern erfolgt manuell durch den Nutzer.

Dazu hält dieser seinen Finger für 30 Sekunden auf die Krone der Uhr. Dadurch wird ein elektrischer Kreis mit dem Arm, an dem der Nutzer seine Uhr trägt, gebildet. Die Zulassung der hierfür eingesetzten Software-Anwendung als Medizinprodukt durch die amerikanische FDA, erfolgte nach dem Pre-Cert Verfahren. Daran nehmen neben Apple auch Fitbit, Samsung und andere Unternehmen teil. Dabei empfiehlt die FDA die EKG-App der Apple Watch als frei verfügbare Lösung zum Zweck der Information von Konsumenten (Quelle: FDA). Insbesondere für Patienten mit Herzerkrankungen dürfte die Möglichkeit, ohne zusätzliche Geräte und Elektroden ein EKG zu erfassen, eine enorme Erleichterung bei der Dokumentation ihrer Beschwerden sein. Apple möchte als Enabler die Versorgung der Herzpatienten unterstützen. Mit den gewonnenen Daten erhalten Ärzte objektive Hinweise zu im Alltag auftretenden Symptomen, können besser auf ihre Patienten eingehen und im Idealfall bessere Behandlungsergebnisse erzielen.

Einen Schritt weiter geht Apple mit der Erkennung unregelmäßiger Herzrhythmen anhand der Messung des optischen Sensors. Anders als beim manuell aufgezeichneten EKG findet diese Messung im Hintergrund statt – ohne zusätzlichen Aufwand und präventiv. Damit besteht die Möglichkeit, die erste Stufe eines Screenings nach Herzrhythmusstörungen aus Arztpraxen und Kliniken in den Alltag der Bürger zu verlagern. Dadurch sollen Auffälligkeiten früher erkannt werden, um die Folgen von Vorhofflimmern, wie insbesondere Schlaganfälle, durch präventive Interventionen zu verhindern. Auch diese Funktion hat die FDA für den Einsatz in den USA zugelassen. Über den Nutzen sind sich die Experten jedoch uneins.

Gute Versorgung oder Überversorgung?

Häufig diskutiert wird die Genauigkeit der Algorithmen der Apple Watch. Sie kann, wie alle medizinischen Testverfahren, zu falsch positiven Ergebnissen und zu unnötigerweise besorgten und überversorgten Patienten führen. Dabei ist die Genauigkeit der Algorithmen der Apple Watch nicht das einzige Problem. Denn mit 98,3 Prozent Sensitivität und 99,6 Prozent Spezifizität im Vergleich zu einem Zwölf-Kanal-EKG liefert die Rhythmus-Klassifikation des einkanaligen EKGs der Apple Watch durchaus akzeptable Werte; auch wenn von den 600 Datensätzen aus Apples Studie nur 87,8 Prozent klassifiziert werden konnten (Quelle: Apple).

Nutzer der aktuellen Generation, die aufgrund der Messung des optischen Sensors auf Unregelmäßigkeiten im Herzrhythmus hingewiesen wurden, verfügen mit dem integrierten EKG über ein brauchbares Instrument, um den Hinweisen nachzugehen und ggf. einen Arzt aufzusuchen. Anders sieht es jedoch für die Nutzer der ersten drei Generationen der Apple Watch aus. Diese erhalten ebenfalls eine Benachrichtigung, wenn der Algorithmus in den Daten des optischen Sensors wiederholt Vorhofflimmern erkennt. Sie haben jedoch nicht die Möglichkeit, diesem Hinweis mit Hilfe der genaueren EKG-Messung nachzugehen. Die Gefahr für falsch positive Befunde ist daher für die Nutzer älterer Smartwatches besonders groß. Aufgrund der enormen Nutzerbasis mit über 50 Millionen verkauften Uhren und 400 Tausend Teilnehmern der Apple Heart Study, die gemeinsam mit der Universität Stanford durchgeführt wird, dürfte Apple die Genauigkeit seiner Algorithmen jedoch weiter steigern können.

… Evidenz?

Problematischer ist die fehlende Evidenz für ein präventives Screening auf Herzrhythmusstörungen bei Patienten ohne Symptome, zu welchen die Mehrheit der Apple Watch Nutzer gehört. Denn auch wenn die frühzeitige Behandlung von Patienten mit Vorhofflimmern Schlaganfälle theoretisch verhindern könnte, konnte dieser Effekt in der medizinischen Praxis bisher nicht nachgewiesen werden. Vielmehr zeigen einige Studien, dass die Behandlung schwacher Arrhythmien, wie sie durch Screenings von asymptomatischen Patienten aufgedeckt werden, zu Nebenwirkungen und Komplikationen führt, denen kein hinreichender medizinischer Nutzen gegenübersteht (Quelle: Healthnewsreview). Entsprechend dürften weitere Studien und differenzierte Guidelines zur Therapie asymptomatischer Patienten notwendig sein, um Klarheit zu schaffen und eine positivere Bilanz zu erzielen. Apple selbst nimmt dabei eine zentrale Rolle ein – ermöglicht das Unternehmen doch mit seinen Plattformen HealthKit und ResearchKit die Durchführung großer Studien, integriert die Daten großer amerikanischer Gesundheitsversorger und kooperiert mit einigen der führenden Forschungseinrichtungen.

Über die Verfügbarkeit der EKG-Aufzeichnung und der Hintergrunderkennung von Vorhofflimmern in Deutschland und anderen europäischen Ländern liegen aktuell keine konkreten Informationen vor. Anders als in den USA, wo ausgewählte Hersteller von einem beschleunigten Zulassungsverfahren für medizinische Softwareprodukte profitieren, dürften sich die europäischen Behörden mehr Zeit genehmigen. Das kann in Anbetracht der hohen Tragweite dieser Innovation von Apple durchaus sinnvoll sein.

Der Gigant selbst arbeitet währenddessen schon an den Funktionen künftiger Generationen seiner Smartwatch und verfolgt dabei auch verschiedene Gesundheitsanwendungen. So fehlt in der aktuellen Software der Apple Watch im Vergleich zu anderen Smartwatches und Activity-Trackern noch immer eine Funktion zur Schlafmessung. Diese kann zwar mit Hilfe der Apps von Drittanbietern installiert werden. Der Konzern selbst setzt jedoch auf eine andere Lösung und hat erst kürzlich eine neue Generation des Matratzensensors von Beddit, einem zu Apple gehörenden Unternehmen, vorgestellt. Für die am Körper getragenen Smartwatches gibt es andere Ansätze, die Probleme chronischer Patienten zu lösen. Großes Potential besteht beispielsweise bei der Messung des Blutdrucks. Diese könnte ähnlich wie bei der Klassifizierung der Herzrhythmen durch die Auswertung optischer Sensordaten mit neuronalen Netzen erfolgen.

Ein solches Verfahren, das von Forschern beschrieben (Quelle: Pubmed) und von Startups wie Aktiia verfolgt wird, könnte die kontinuierliche Messung des Blutdrucks ermöglichen. Apple selbst hat ein Patent zu einem etwas komplexeren Verfahren beantragt (Quelle: Patently Apple). Dieses leistet zwar keine kontinuierliche Überwachung, doch es ermöglicht im Bedarfsfall eine einfache Messung ohne zusätzliche Blutdruckmanschette. Welcher Ansatz zum Ziel führt, bleibt abzuwarten. Sollten Apple oder weitere Wettbewerber erfolgreich sein, dürfte dies einen massiven Einfluss auf die Überwachung und Behandlung eines der wichtigsten Risikofaktoren haben.

Revolution der Blutzuckermessung?

Noch spekulativer wird es bei der non-invasiven Messung des Blutzuckerspiegels, die von vielen als „heiliger Gral“ bezeichnet wird. Ziel eines solchen Verfahrens ist es, exakte Messwerte zu erfassen – und zwar ohne Blutentnahme oder Mikronadeln in der Interstitialflüssigkeit, wie es bei den als Pflaster getragenen, kontinuierlichen Blutzuckermessgeräten passiert. Gelingt dies, ließe sich nicht nur die Versorgung der Menschen mit Diabetes verbessern; auch in der Prävention wären sinnvolle Anwendungen zur Optimierung des Stoffwechsels möglich. Laut Gerüchten arbeitet Apple seit Jahren an einer entsprechenden Sensorik, an der sich auch zahlreiche Startups und etablierte Unternehmen versuchen. Die Komplexität ist jedoch enorm, wie auch Wettbewerber Google feststellen musste, der die Entwicklung einer Kontaktlinse zur Blutzuckermessung wieder aufgab. Eine Verbesserung der Situation für Menschen mit Diabetes ist jedoch auch mit einfacheren Ansätzen denkbar – beispielsweise über eine Steuerung der am Körper getragenen Insulinpumpen durch smarte Telefone oder Uhren, ähnlich wie dies Samsung mit dem Kooperationspartner Insulet kürzlich vorstellte. (Quelle: Samsung).

Für Apples Positionierung im Luxus-Segment erscheint die Konzentration auf Wearables und Gesundheit strategisch sinnvoll. Hohe, aber fokussierte Budgets für Forschung und Entwicklung ermöglichen dem Unternehmen die Führung in einem Markt mit hoher Zahlungsbereitschaft. Ferner stärkt die Ergänzung der smarten Watch zum Apple-Kernprodukt iPhone inklusive der eingebauten Gesundheitsdaten und -funktionen, die Bindung der Kunden ans eigene Ökosystem. Hoffentlich halten auch die Anbieter für die konkurrierende Android-Plattform mit diesem Innovationstempo Schritt und machen das Potenzial der Digital-Health-Anwendungen und Wearables allen Smartphone-Nutzern zugänglich. Für die Anwender ist entscheidend, dass technische Innovationen zu einem echten Nutzen für die Gesundheit führen. Wie am Beispiel der Funktionen zur Herzgesundheit deutlich wird, können Unternehmen wie Apple hier eine Revolution einläuten. Erfolgreich umsetzen lässt sich diese Revolution nur mit dem Beitrag von Ärzten und anderen Stakeholder der Gesundheitswirtschaft.

Quelle Text: Florian Schumacher

Der Self-Tracking-Pionier, Digital Health Consultant und Startup Advisor importierte seinen ersten Fitness-Tracker 2011 aus den USA. Seit Einführung der Apple Watch freut er sich darüber, dass Self-Tracking, Technologie-Enthusiasmus und Mode miteinander vereinbar sind. Schumacher berät Unternehmen zu präventiv-medizinischen Lösungen. Spezialisiert ist er auf die Früherkennung von Krankheiten durch medizinische Untersuchungen und Consumer Health Devices sowie auf digitale Anwendungen zur Prävention und Therapie. Ferner ist er Gründer von Quantified Self Deutschland, Speaker und Autor. Auf seinem Blog igrowdigital.com berichtet er über Digital Health, Life- und Biohacking. Dort ist auch sein ausführlicher Testbericht zur aktuellen Apple Watch erschienen.

Bildquellen: Apple, Beddit und Emanuel Klempa