Seit vielen Jahren liest man von robusten Studienergebnissen zur Wirksamkeit von E-Mental-Health in der Behandlung psychischer Erkrankungen. Dennoch sind Online-Interventionen im deutschen Gesundheitssystem bisher nicht Teil der Regelversorgung. Es gibt trotzdem Grund zum Optimismus, denn in Deutschland gibt es bereits mutige Pionierinnen und Pioniere, die beeindruckende E-Mental-Health-Projekte implementiert haben. Diesen war das Symposium ‚E-Mental-Health Best Practices‘ gewidmet.

 

Forschungslage

Die Wirksamkeit von Online-Interventionen ist Voraussetzung für einen sinnvollen Einsatz digital unterstützter Präventions- und Therapieangebote. Zahlreiche Universitäten arbeiten aus diesem Grund an der Entwicklung und Evaluation von Online-Inhalten. Dr. Elena Heber leitete das Symposium mit einem Überblick über die Forschungslage ein. Dabei betonte die stellvertretende Geschäftsführerin des Get.on-Institutes, dass psychische Erkrankungen eine hohe Prävalenz aufweisen und ein Großteil der Betroffenen fehlversorgt wird oder unbehandelt bleibt. Dies führt zu einer „hohen Krankheitslast und immensen ökonomischen Kosten“. Gleichzeitig stellte sie wirksame Online-Interventionen heraus, die „ein vielversprechender Weg sind, die Versorgung effektiver und günstiger zu gestalten.“

Das Get.on-Institut entwickelte in Zusammenarbeit mit Minddistrict und der Leuphana Universität im Rahmen eines EU-geförderten Forschungsprojekts eine Vielzahl von wissenschaftlich nachweisbar wirksamen Interventionen. Anhand aktueller Forschungsergebnisse zeigte Dr. Heber, wie diese Online-Interventionen bei verschiedenen Störungsbildern „substantielle und langfristig stabile Effekte“ zeigen. Besonders spannend waren die Ergebnisse in Bezug auf das Modul zur Depressionsprävention. Dabei handelt es sich um das „weltweit erste Internet-Programm, das nachweislich das Auftreten einer Depression verhindern kann.“

Online-Klinik MindDoc by Schön Klinik

Nicolas Stoetter, Leiter Digital der Schön Klinik, rief vergangenen Jahr die Online-Klinik MindDoc ins Leben, die seitdem mehrere hundert ambulante Patienten und Patientinnen behandelte. Dies funktioniert ohne eigene Stationen und Betten, mit einem kleinen Team von Psychotherapeuten und Intervention Developern. Nach einem zweistündigen persönlichen Gespräch über Diagnostik und Aufklärung in einer der Schön Kliniken, findet die eigentliche Psychotherapie ausschließlich online über verschiedene Module und Videogespräche statt.

Mit Bezug auf die Motivation der Schön Klinik, ein solches Online-Angebot zu entwickeln, stellte Stoetter folgende Hypothese auf: In Zukunft wird es mehr darauf ankommen, dass viele Menschen niedrigschwelligen Zugang zu wirksamer und kosteneffizienter Versorgung online haben, als dass wie bisher nur wenige Betroffene nach langer Wartezeit einen qualitativ sehr hochwertigen konventionellen Psychotherapieplatz erhalten.

Diesen Gedanken rundete er mit einem Vergleich ab. Einerseits gab es in den 70er Jahren hochpreisige Fluggesellschaften, deren Service eher an ein Fünf-Sterne-Restaurant erinnert, und die nur von einigen wenigen Menschen genutzt werden konnten. Andererseits wurden in den 80er und 90er Jahren auch günstigere Fluglinien gegründet, welche zwar weniger Komfortmerkmale boten, es jedoch einer breiten Masse an Menschen ermöglichten, Flugreisen überhaupt erst in Anspruch zu nehmen. Die hochpreisigen Luxusflieger hingegen wurden zunehmend aus dem Markt gedrängt.

Übertragen auf die psychotherapeutische Versorgung bedeutet dies, nachweislich wirksame Online-Interventionen stehen in Zukunft einer breiten Masse an Menschen zeitnah zur Verfügung. Klinikbetreiber sind zum Umdenken gezwungen, wenn sie weiterhin wirtschaftlich erfolgreich sein möchten: Wie die luxuriösen Fluglinien der 70er Jahre müssen sie sich auf den Wandel in der Versorgungslandschaft einstellen und Online-Angebote in ihre Behandlungsabläufe einbeziehen.

Stoetter verwies auch auf das Unternehmen Airbnb, eine Plattform zur Buchung und Vermietung von privaten Unterkünften. Dieses sei der größte Hotelanbieter der Welt ohne ein einziges eigenes Bett. Möglicherweise, so Stoetter, wird die größte psychiatrische Klinik der Welt in Zukunft mit Hilfe von E-Mental-Health auch ohne eigene Betten auskommen.

Online-Prävention der Barmer und der SVLFG

Dass E-Mental-Health nicht nur in der Psychotherapie wirksam eingesetzt werden kann, sondern auch für niedrigschwellige Präventionsangebote geeignet ist, zeigen Präventionsprojekte der Barmer und der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau. Hier können Versicherte in den „grünen Berufen” eine Online-Intervention zur Depressionsprävention nutzen.

Das seit 2015 bestehende Präventionsangebot der Barmer umfasst neben einem Modul zur Prävention einer Depression auch Online-Interventionen zur Stressbewältigung, Reduktion von Schlafstörungen und Depressionsprävention bei Versicherten mit Diabetes.

In einer begleitenden Studie wurde festgestellt, dass die Online-Interventionen auch im Einsatz durch die Barmer ähnlich starte Effekte bewirkten, wie zuvor durchgeführte universitäre Studien vermuten ließen.

Großbritannien: E-Health und Betriebliche Gesundheitsförderung

Evidenzbasierte Online-Interventionen gehören in Großbritannien zur Regelversorgung psychischer Erkrankungen. Doch auch in der Prävention werden sie eingesetzt, um Angestellten mit psychischen Belastungen niedrigschwellige Hilfsangebote zu unterbreiten. Umgesetzt wird dies durch spezielle Unternehmen, die von Arbeitgebern mit der Implementierung von Employee Assistance Programs (EAP) beauftragt werden.

Den Hintergrund für diese Bemühung bilden britische Studienergebnisse, nach denen den jährlichen Gesamtkosten durch Abwesenheit vom Arbeitsplatz mehr als doppelt so hohe Kosten durch Präsentismus, also der Anwesenheit trotz Erkrankung, gegenüberstehen. Präsentismus geht nicht nur mit hoher Belastung für die Betroffenen einher, sondern führt durch die reduzierte Leistungsfähigkeit der Angestellten auch zu wirtschaftlichen Einbußen der Unternehmen. Wenn man berücksichtigt, dass laut des Mind Workplace Wellbeing Index 69 Prozent der Angestellten Symptome psychischer Probleme zeigten, ist die Notwendigkeit niedrigschwelliger Hilfsangebote schnell erkennbar.

Daher arbeitet Minddistrict eng mit EAP-Providern zusammen, um in Kooperation mit (Groß-)Unternehmen neben traditionellen Telefoncoachings auch Online-Interventionen und Tagebücher anzubieten. Die Inhalte reichen hier von Stressbewältigung und Entspannung über Schlaf- und Problemlösetrainings bis hin zu Themen wie gesunde Lebensweise, Selbstwertgefühl und Partnerschaft.

Die EAP- Provider stellen neben der Prävention auch Psychotherapieplätze für die Angestellten bereit und begleiten sie auch im Anschluss an die Behandlung in der Nachsorge. Dabei werden beispielsweise Module zur Behandlung von starkem Stress, Depression, Angststörungen sowie Panik- und Zwangsstörung verwendet.

Angepasst auf die Bedürfnisse der Teilnehmenden bieten die EAP-Provider die Online-Interventionen in 3 verschiedenen Settings an:

  • Selbsthilfe-Trainings
  • Begleitete Selbsthilfe mit schriftlichen Feedbacks
  • Blended Care – Kombination von Online- und Face-to-Face-Sitzungen

Da die Teilnehmenden Psychoedukation und andere Routineaufgaben, wie z.B. Entspannungsübungen in den Online-Modulen selbstständig bearbeiten können, konnte die Behandlungszeit auf Seiten der TherapeutInnen um bis zu 50 Prozent reduziert werden. Durch die frei gewordenen Behandlungskapazitäten konnten mehr Teilnehmende Hilfsangebote in Anspruch nehmen. Die Erfolgsraten liegen bei 72 Prozent.

Somit tragen EAP-Provider durch den Einsatz von evidenzbasierten Online-Interventionen zu einer Verbesserung der Lebensqualität und Leistungsfähigkeit bei einem zunehmend wachsenden Teil der Belegschaft bei.

Niederlande: Hausarztzentrierte gestufte Versorgung

Eine weitere internationale Best Practice ist Ketenzorg, das hausarztzentrierte Stepped-Care-Projekt, welches die psychotherapeutische Versorgung in der Region Nordbrabant, im Süden der Niederlande, abdeckt. Alle Akteure greifen hier auf dieselbe E-Mental-Health Plattform zu, wobei die Datenhoheit stets bei den Patienten bleibt.

Je nach Beschwerdebild können Teilnehmende im ersten Schritt webbasierte Selbsthilfe-Angebote in Anspruch nehmen. Der Minddistrict Selbsthilfe-Katalog ist rund um die Uhr verfügbar und bietet neben verschiedenen Trainings, beispielsweise zur Stressbewältigung und Entspannung, zur Verbesserung des Schlafes, der Problemlösekompetenz und zur Reduktion des Alkoholkonsums passende Online-Tagebücher.

Sollte die Selbsthilfe nicht ausreichen, können sich die Betroffenen an ihre Hausarztpraxis wenden. Auch dort werden Online-Interventionen angeboten, welche je nach Beschwerdebild mit schriftlichen Feedbacks, Videogesprächen oder persönlichen Gesprächen vor Ort kombiniert werden.

Bei Bedarf beziehen die Hausärzte Psychotherapeutinnen unterschiedlichen Spezialisierungsgrades mit in die Behandlung ein.

Da alle Behandelnden auf dieselbe E-Mental-Health Plattform zugreifen, sind sie immer über die bereits erarbeiten Inhalte, Erfolge und Misserfolge informiert und können nahtlos daran anschließen. Die Hausärzte fungieren als Gatekeeper für den Zugang zu intensiver psychotherapeutischer Versorgung, wodurch die begrenzten Ressourcen des Gesundheitssystems bedarfsgerecht eingesetzt werden.

Auch für die Patienten ergeben sich Vorteile: Sie erhalten zeitnah niedrigschwellige Behandlungsangebote in Form von Selbsthilfe oder Versorgung über ihre vertraute Hausarztpraxis. Mit diesen Interventionen können sie online zeit- und ortsunabhängig an ihrer Gesundheit arbeiten.

Gleichzeitig steht ihnen bei Bedarf auch der Weg in intensivere Behandlungssettings offen. Auch nach der Behandlung können sie Minddistrict weiterhin nutzen, um hilfreiche Inhalte und Übungen zu wiederholen, Rückfallpräventionspläne zu erstellen. Über das sichere soziale Netzwerk in der Plattform können sie weiterhin ihre Angehörigen und Freunde in ihren Weg zur Besserung mit einbeziehen.

Ketenzorg ist somit nicht nur ein Bespiel für die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Hausärztinnen und Psychotherapeuten. Es zeigt auch, dass E-Mental-Health an bestehende Versorgungsstrukturen angebunden werden kann, anstatt sie ersetzen zu wollen. So können die vorhandenen Ressourcen effizient und bedarfsgerecht eingesetzt werden.

Quelle: Minddistrict