Dr. Julian Wichmann arbeitete sechs Jahre in der Universitätsmedizin als Radiologe und Allgemeinmediziner mit einem besonderem Fokus auf Schmerzpatienten. Er ist Investor und Berater mehrerer digitaler Gesundheitsunternehmen. Als etablierter Forscher mit über 150 wissenschaftlichen Publikationen erweitert er ausgehend von streng evidenzbasierten schulmedizinischen Leitlinien Therapieformen zur Behandlung chronischer Erkrankungen rund um Cannabis und weitere natürliche Arzneimittel. Im Interview verdeutlicht er seine Erfahrungen als Gründer und den Vorteil digitaler Therapien sowie Telemedizin.

Du bist einer der wenigen ausgebildeten Ärzte, die im Cannabis-Umfeld unternehmerisch aktiv sind. Woran liegt es, dass eher BWLer gründen?

Dafür lohnt ein Blick zurück. Im März 2017 trat das Gesetz „Cannabis als Medizin“ in Kraft. Plötzlich drängten selbstinformierte Patienten auf ihr gutes Recht, mit medizinischem Cannabis therapiert zu werden. Woher aber sollte dieses kommen? Immerhin sprechen wir hier von einem streng regulierten Betäubungsmittel. Von daher war es wenig verwunderlich, dass in der ersten Welle Großhändler entstanden, die medizinisches Cannabis aus Kanada und den Niederlanden einführten – mit dem dafür erforderlichen betriebswirtschaftlichem Know-How. Dennoch hat heute nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Ärzteschaft praktische Erfahrungen in der Behandlung mit Cannabis. Erst peu á peu entdecken immer mehr Ärzte dessen Potenzial für die Behandlung chronisch Erkrankter. Wir leisten dabei viel Aufklärungs- und Pionierarbeit.

Du hast sechs Jahre als praktizierender Arzt gearbeitet. Was hat dich dazu bewegt, ein Telemedizin-Unternehmen zu gründen?

Das immense Potenzial, die Therapie und die Patientenerfahrung zu verbessern, ist mein Ziel. In meiner Zeit in der Universitätsmedizin hat mich die technische Innovation fasziniert. Die Behandlungsmethoden werden immer besser und digitaler. Leider hat sich bei der Arzt-Patienten-Interaktion relativ wenig getan, diese ist immer noch sehr analog, Austausch findet meist nur in knappen Gesprächen statt, das birgt viel Frustrationspotenzial für beide Seiten und muss verbessert werden. Gleichzeitig ist natürliche Medizin  in vielen Fällen eine gute Alternative und eine wichtige Ergänzung im Repertoire von Schulmedizinern.

Und diese Interaktion wolltest du ändern?

Allerdings. Um es kurz zu machen: Erstens verschreiben nur zwei Prozent der Ärzte medizinisches Cannabis – für viele chronisch Erkrankte ist es daher schwierig, überhaupt einen Arzt mit dieser Expertise zu finden. Diesen Patienten wollen wir als verlässliche Anlaufstelle für geschulte medizinische Expertise für die richtige Cannabinoid-basierte Therapie dienen. Zweitens wollen wir den Patienten radikal in den Fokus rücken und legen viel Wert auf Service. Unsere Mitarbeiter antworten auch am Wochenende! Langfristig streben wir an, durch unsere Erfahrungen und unsere Daten zu mehr Akzeptanz von personalisierten Behandlungsplänen sowie evidenzbasierten Cannabinoid-Therapien beizutragen. Aktuell besetzen wir viele neue Stellen, um unser Wachstum weiter voran zu treiben.

Kannst du genauer erläutern, wie ihr Patienten online im Behandlungsverlauf zur Seite steht?

Algea Care ist Spezialist für medizinisches Cannabis und das erste Telemedizin-Unternehmen Deutschlands für Betäubungsmittel. Durch die Digitalisierung haben wir den Patienten komplett in den Fokus gerückt und betrachten jeden Ablauf aus dessen Perspektive. Beispielsweise gibt es bei uns kaum Wartezeiten, wir sind rund um die Uhr für den Patienten da – antworten etwa binnen 24 Stunden online – und lassen den Patienten auch nach erfolgter Verschreibung nicht alleine. Für viele Cannabis-Patienten ist neben der Arztsuche das Auffinden einer Apotheke, die die richtige Sorte verfügbar hat, eine echte Odyssee. Wir unterstützen den Patienten daher, bis die richtige Sorte verschickt ist.

Stichwort Service – ihr setzt auf eine starke digitale Komponente…

Korrekt. Bis dato gibt es neben den bereits erwähnten Distributoren – über 50 sollen es inzwischen sein – drei Unternehmen, die hierzulande Cannabis anbauen dürfen. Ich kenne kein weiteres Cannabis-Unternehmen, dessen Kern ein digitales Geschäftsmodell ist und das sich auf die Behandlung fokussiert. Da man bei so einem Modell Kompetenz in der ärztlichen Behandlung und dem Cannabis-Sektor benötigt, habe ich mit Anna Kouparanis gegründet, die als erste Frau deutschlandweit einen Großhandel für medizinisches Cannabis gegründet hat. Ihre betriebswirtschaftliche regulatorische Expertise und mein medizinisches Wissen ergänzen sich ideal.

Können Sie erläutern, wie Sie digital den Patienten-Service verbessern?

Aktuell sieht der Gesetzgeber vor, dass Ärzte Cannabis nur unter bestimmten Voraussetzungen verschreiben dürfen. Unter anderem muss es sich dabei um eine „schwerwiegende“ Erkrankung handeln, die den Alltag stark einschränkt. Außerdem darf der Arzt keine anderweitige dem medizinischen Standard entsprechende Behandlungsalternative für den Fall als aussichtsreich sehen. Dieser bürokratische Aufwand, die Notwendigkeit sich in eine ganz neue Behandlungsmethode einzuarbeiten und auch das Risiko möglicher Regressansprüche hält viele Ärzte davon ab, sich überhaupt mit Cannabis als Arzneimittel zu beschäftigen. Wir haben dank der Digitalisierung bereits die Prüfung von neuen Fällen standardmäßig teil-automatisiert, dadurch wird sie gründlicher. Außerdem liegen alle Daten zum Patientenverlauf elektronisch vor, das erleichtert die Optimierung und Personalisierung der Behandlung ungemein. Schlussendlich sind wir dank Telemedizin sogar näher dran am Patienten. Wir stehen ihm rund um die Uhr beiseite. Uns ist sehr wichtig, dass das Erstgespräch persönlich stattfindet. Vor allem werden uns die digital vorliegenden Daten zu Behandlungsverläufen langfristig dabei helfen, den Erfolg unserer Therapien zu optimieren. Erstgespräche für neue Patienten bieten wir aktuell in Frankfurt, München und Berlin sowie neuerdings in Köln an, weitere Standorte sind im Aufbau. Sämtliche Folgetermine finden bequem per Videosprechstunde statt. Gerade chronisch erkrankte Patienten können und wollen nicht immer zum Arzt ins Wartezimmer. Wir richten uns auch beim Terminangebot nach den Patienten – diese finden meist am Wochenende oder in den Abendstunden statt.

Perspektivisch soll dies nicht nur durch Cannabis passieren, sondern auch durch andere Naturheilmittel?

Genau. Letztlich setzen sich viele Ärzte aus genannten Gründen nicht fundiert mit Cannabis-Therapien auseinander. Das Traurige an der ganzen Geschichte: In sehr vielen Fällen ist Cannabis als Heilpflanze die bessere Alternative mit guter medizinischer Evidenz für viele chronische Beschwerden wie beispielsweise Schmerzsyndrome.  Unserer Erfahrung nach ermöglicht diese Heilpflanze in den meisten Fällen deutlich weniger unerwünschte Nebenwirkungen als viele Tabletten. Das gleiche gilt für weitere Naturheilmittel. Mit Cannabis als Betäubungsmittel haben wir als Telemedizin-Anbieter bereits die größte Hürde gemeistert, um unser Wissen für weitere Naturheilmittel weiter auszubauen. In Zukunft werden wir das Therapieangebot für unsere Patienten erweitern, um langfristig ganzheitlich behandeln zu können.