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Ein Großteil deutscher digitaler Gesundheitsunternehmen scheitert am heimischen Marktzugang. Wann ändern sich die Rahmenbedingungen? Nicht warten, sondern vorangehen und den Weg ebnen, so lautet die Aufgabe.

 

Die Digitalisierung unserer Gesellschaft ist nicht aufzuhalten. Das zeigt unser Leben als Bürger und Verbraucher – wie wir einkaufen, unser Bankkonto nutzen, lesen, kommunizieren … – die statistischen Zahlen sprechen eine klare Sprache: In den vergangenen Jahren verachtfachte sich die Abdeckung mit Smartphones in Deutschland, und das verwendete mobile Datenvolumen steigerte sich auf das Vierzehnfache.

Der vereinfachte, schnellere Zugang zu Informationen, verbesserte Infrastrukturen und neue Kommunikationswege führen zu veränderten Bedürfnissen und Anforderungen der Menschen und somit auch zu neuen potenziellen Geschäftsmodellen. Deutsche industrielle Leitmärkte erkennen langsam aber sicher dieses Potenzial bzw. das Risiko einer Unterbewertung dieser nicht aufzuhaltenden technologischen und gesellschaftlichen Entwicklung. Es gibt kaum eine Wirtschafts- oder Industriekonferenz, auf der nicht Themen wie „Internet of Things“, „Industrie 4.0“ oder „Digitale Agenda“ diskutiert, Förderprogramme angekündigt oder Allianzen geschlossen werden.

Dieser Trend ist auch in der deutschen Gesundheitswirtschaft zu erkennen. „Digital Health“, „mobile Health“ und „e-Health“ werden intensiv diskutiert, Handlungsfelder identifiziert und das medizinische Potenzial gepriesen. Diese offene Diskussion der letzten Jahre führte zu einer wahrnehmbaren positiven Entwicklung. Nichtsdestotrotz ist es auffällig, dass wir uns im Vergleich zu anderen Gesundheitsmärkten in Nord- und Osteuropa und sogar zu Ländern mit sehr ähnlichen Gesundheitssystemen, wie beispielsweise Frankreich, sehr langsam bewegen. Auffällig ist dies, da in Deutschland mit der unbestrittenen wissenschaftlichen und medizinischen Exzellenz die Rahmenbedingungen für digitale medizinische Innovation ausgezeichnet erscheinen.

 

Datenschutz – berechtigte Bedenken?

Die wohl größte Besonderheit des deutschen Gesundheitssystems ist der stark eingeschränkte Zugang zu medizinischen Daten. Zwar könnte ein Großteil der Bevölkerung sich vorstellen, seine Gesundheitsdaten der medizinischen Forschung zur Verfügung zu stellen. Die hierzulande jedoch geschichtsbedingte „German Angst“ vor Datenmissbrauch und -manipulation führt zu einer stark emotionalisierten Debatte, deren Folge ein schwer zu durchblickender Dschungel aus landes-, bundes- und europaspezifischen Regularien und Gesetzen ist. Die Hoffnung einer Vereinheitlichung mit klaren Richtlinien für den Umgang mit medizinischen Daten bei einer gleichzeitigen Sicherstellung der berechtigten Anforderungen an Datenschutz und Datensicherheit erfüllt sich wohl vorerst nicht. Somit bleiben die Möglichkeiten der Datenanalyse zur Entwicklung patientenspezifischer Diagnose- und Therapieempfehlungen derzeit ungenutzt und werden perspektivisch von den in die Gesundheitswirtschaft drängenden amerikanischen Technologieunternehmen übernommen. Es besteht die Gefahr, dass das enorme volkswirtschaftliche Potenzial von über zwölf Milliarden Euro teilweise den Akteuren im Ausland überlassen wird, so wie es auch in anderen technologieorientierten Branchen bereits geschehen ist beziehungsweise unaufhaltsam scheint.

 

Strohhalm als Geschäftsmodell?

Die Vielzahl der aktuell als Medizinprodukt zertifizierten digitalen Lösungen in diesem Bereich zeigt, dass es uns in Deutschland nicht an vielversprechenden Ideen mangelt, sondern dass wir es nicht schaffen, durch entsprechende Rahmenbedingungen den Innovatoren einen Zugang zum Heimatmarkt zu ermöglichen. Das vielleicht größte Innovationshemmnis auf dem deutschen Gesundheitsmarkt ist nicht etwa die Zertifizierung als Medizinprodukt, die auf Grund der hohen Sicherheitsrelevanz für Leib

und Leben der Nutzer eine zwingende Voraussetzung darstellt. Die größte Hürde ist die anschließende Refinanzierung, also die Definition funktionierender Geschäftsmodelle. Es existiert, Stand heute, keine einzige digitale Anwendung in der gesamten deutschen Regelversorgung, also die Verschreibung und Vergütung des Produktes durch alle gesetzlichen Krankenversicherungen. Der hierfür notwendige zeitliche und monetäre Aufwand ist so hoch, dass die eher ressourcenschwachen Unternehmen das nicht abzuschätzende Risiko scheuen. So bleiben aussichtsreichen Geschäftsmodellen eigentlich nur der Weg über den Selbstzahlermarkt und die Kooperation mit Krankenkassen über sogenannte Selektivverträge.

Das wachsendes Bewusstsein für Gesundheit und Fitness sowie der stärker werdende Wunsch nach alternativen Therapie- und Behandlungsformen führten in den vergangenen Jahren zu einem Gesamtvolumen des Selbstzahlermarktes in Deutschland von aktuell über eine Milliarde Euro. Eine Summe, die im ersten Moment viel erscheint, sich aber relativiert, sobald man diese mit dem Volumen des amerikanischen „out-of-pocket“-Gesundheitsmarktes von über 300 Milliarden Euro vergleicht. Aus Sicht der Patienten stellt dieser Vergleich ein Qualitätsmerkmal des deutschen Gesundheitssystems dar, da die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung unsere Versorgung umfassend sicherstellen. Dieser Anspruch der Bevölkerung führt jedoch dazu, dass eigentlich nur Innovationen in medizinisch unterversorgten Bereichen – beispielsweise psychische Erkrankungen – eine Chance haben, von einem relevanten Anteil der Betroffenen genutzt zu werden.

Ähnliches gilt auch für die Kooperation mit Krankenkassen im Rahmen eines Selektivvertrages. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass vor allem für unerfahrene Unternehmen die Verhandlungen mit den Krankenkassen einen hohen zeitlichen Aufwand mit sich bringen. Das Ergebnis ist ein oft regional beschränktes Pilotprojekt, welches zwar den ersten Schritt in das Gesundheitssystem gewährleistet, aber auf Grund der Heterogenität der Krankenkassen nicht die Skalierung ermöglicht, die sich ein dynamisches Unternehmen mit digitalen Produkten erhofft.

 

Dynamik gleich Wachstum

Aufgrund der vielen Hürden für Innovationen im deutschen Gesundheitsmarkt, ist es nicht verwunderlich, dass das Volumen des amerikanischen digitalen Gesundheitsmarkts bereits jetzt schon sechsmal so groß als hierzulande ist. Hinzu kommt die für das Wachstum digitaler Innovationen elementare, aber in Deutschland unzureichend vorhandene Marktdynamik. Öffentliche Förderprogramme in der Forschung und Entwicklung sowie Unternehmensgründung sorgen für kontinuierlichen Zuwachs an Innovationen, jedoch scheitert eine Vielzahl der Unternehmen an dem im hiesigen Gesundheitsmarkt besonders kapitalintensiven Marktzugang. Vor allem das reine Marktpotenzial, aber auch die erhöhte Risikofreudigkeit der privaten Kapitalgeber führt dazu, dass die „Top 10“ der digitalen Gesundheitsunternehmen, Wachstum und Übernahmevolumen betreffend, fest in amerikanischer Hand sind. Dies hat unausweichlich Auswirkungen auf die deutschen Unternehmen, die sich im globalen digitalen Gesundheitsmarkt dieser Konkurrenz stellen müssen.

 

Pioniere gesucht!

Es besteht das akute Risiko, eine innovative Branche für den Wirtschaftsstandort Deutschland zu verlieren. Viele Unternehmen geben auf dem steinigen Weg entnervt auf, werden von der internationalen Konkurrenz schlicht überholt oder wandern ins Ausland ab. Die notwendigen Handlungsbedürfnisse sind bereits identifiziert: Es gibt einen Bedarf an klaren Richtlinien für Datenschutz und -sicherheit. Auf Grundlage der in diesem Jahr veröffentlichten europäischen Datenschutzverordnung – und in Zusammenarbeit mit den Datenschutzbeauftragten von Bund und Ländern – sollen zeitnah national einheitliche Richtlinien festgelegt werden, die es den Unternehmen ermöglichen, innovative und datenschutzkonforme Lösungen zu entwickeln. Gleiches gilt für das Thema Marktzugang. Der für klassische medizintechnische Produkte etablierte Pfad in das deutsche Gesundheitssystem funktioniert nicht für digitale Lösungen mit kurzen Entwicklungszyklen und kleinen Teams. Der auf politischer Ebene oft diskutierte, aber noch nicht spezifizierte „Shortcut“ für digitale Medizinprodukte wäre eine Möglichkeit, Potenzialabschätzung, Pilotierung und Erprobung sicherzustellen und Unternehmen einen Marktzugang in Deutschland zu erleichtern. Dies würde auch die notwendige Dynamik in den Markt bringen, die deutsche Unternehmen befähigt, zu wachsen und im globalen Gesundheitsmarkt zu bestehen.

Der aktuelle Stand der Diskussion und die Erfahrungen anderer Branchen zeigen jedoch, dass man zeitnah nicht mit drastischen Änderungen der Rahmenbedingungen rechnen kann. Die Handlungsaufforderung lautet, sich frühzeitig mit dem vorhandenen System auseinanderzusetzen. Denn durch die positive Entwicklung der letzten Jahre ist eine Dynamik entstanden, die zumindest perspektivisch Hoffnung auf erste deutsche Leuchttürme in der digitalen Gesundheitsversorgung macht. Dem deutschen Gesundheitsunternehmen Sonormed, Entwickler der digitalen Tinnitus-Therapie Tinnitracks, ist es gelungen, bereits acht Verträge mit Krankenkassen zu schließen, davon allein sieben im Jahr 2016. Das digitale Menstruationstagebuch „Clue“ hat mit bereits zweieinhalb Millionen Nutzerinnen aus über 180 Ländern ein globales Netzwerk aufgebaut und kann nun, in Zusammenarbeit mit strategischen Partnern, vielversprechende Geschäftsmodelle realisieren. Der in Deutschland stark verankerte österreichische Diabetes Manager „mySugr“ konnte bereits über sechs Millionen Euro an Frühfinanzierung einsammeln. Das Unternehmen entwickelt momentan ein weltweit skalierbares Produkt.

Diese Unternehmen haben es geschafft, funktionierende Geschäftsmodelle zu entwickeln und diese als Pioniere umzusetzen. Den globalen Wettbewerb verstehen sie hierbei nicht als Gefahr, sondern als Chance, ihren medizinischen und ökonomischen Nutzen zu demonstrieren und somit den Weg ins Gesundheitssystem für sich und ihre Nachfolger zu ebenen. Das ist eine undankbare Aufgabe, aber irgendjemand muss sie übernehmen. Wir brauchen mehr Unternehmen, die diesen Beispielen folgen und Strukturen schaffen, die Innovationen wachsen lassen können!

 

Über den Autor:

Jared Sebhatu ist Program Director für den German Accelerator Life Sciences in Deutschland. In dieser Rolle verantwortet er die Sichtung der deutschen Life Science Startup-Szene und ist erster Ansprechpartner für strategische Partner und Stakeholder vor Ort. Ferner berät er verschiedene Startups in den Bereichen Strategie, Technologie und Innovationsmanagement. Durch Stationen bei einer Vielzahl internationaler Unternehmen in der Gesundheitswirtschaft baute er eine umfassende Expertise zum Gesundheitsmarkt und zu Innovationsprozessen, insbesondere in den Bereichen Medizintechnik und „Digital Health” auf.